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 Trans-identitäre Organisierung & Hybridität

Trans-identitäre Organisierung & Hybridität - Heiliger Goldfisch!
author: Gregor Samsa - 01.07.2002 22:18

Stichworte zur Orts-, Organisations- und Identitätsdebatte rund um's 5. Antirassistische Grenzcamp. Oder: Warum dieses Jahr die Musik in Thüringen spielt?! Trans-identitäre Organisierung & Hybridität - Heiliger Goldfisch, was ist denn das!?

1. Auftakt

Glücklich sicherlich nicht, aber unterhalten (und obendrein auf den Boden der Tatsachen geholt), dürfte sich fühlen, wer in den letzten Monaten Zugang zur internen Mailing-Liste, d.h. zum virtuellen Diskussionsforum der Antirassistischen Grenzcamp-Community hatte. Denn geboten wurde dort so Manches, nicht zuletzt ein fulminanter Debatten-Showdown rund um die Frage, ob und wie das mehrheitlich deutsch-weiße Grenzcampvölkchen gezielt mit MigrantInnen- und Flüchtlingszusammenhängen kooperieren sollte, auf dass langfristig nicht nur die deutsch-weißen Dominanzen innerhalb linksradikaler Zusammenhänge ausgehebelt, sondern auch trans-identitäre, mehr noch: hybride Bündnisse geschmiedet werden können.
Aufhänger der Debatte ist indessen ein anderer gewesen, die Frage danach, wo denn das 5. Antirassistische Grenzcamp im Jahre 2002 seine Zelte aufschlagen sollte: in Hamburg (als unmittelbarer Fortsetzung des Frankfurter Grenzcamps) oder in Thüringen (als Wiederanknüpfung an die ersten drei Grenzcamps). Pikant hieran ist weniger das schon oft ausgewalzte Spannungsverhältnis zwischen westdeutscher Metropole und ostdeutscher Provinz gewesen (einschließlich des unter westdeutschen Linksradikalen gerne kultivierten Anti-Zonen-Chauvinismus). Nein, pikant ist vielmehr gewesen, dass sich für Thüringen in erster Linie die Flüchtlingsselbstorganisationen "The Voice" sowie "Brandenburger Flüchtlingsinitiative" stark gemacht haben. Denn hierdurch ist im Gewande der Ortsfrage ein ganz anderes Problem akut geworden, das eben schon erwähnte Problem, ob und wie weiße AntirassistInnen ihre Dominanzen (inklusive ihrer Weißheit) anzugehen und so von ihrer Seite aus (!) die Voraussetzung für trans-identitäre Bündnisse zu schaffen hätten. Diese Überlappung zweier gänzlich unterschiedlicher Fragestellungen hat die Debatte einigermaßen erschwert: Während die Pro-Hamburg- Fraktion (vertreten im übrigen v.a. durch Nicht-HamburgerInnen) insbesondere die Vorzüge der Metropole gepriesen, das allerdings mit dem Vorwurf verknüpft hat, die Thüringen-BefürworterInnen würden sich in althergebrachter, d.h. moralinsaurer Antira-Manier dem Anliegen der Flüchtlinge unterordnen und auf diese Weise einem banalisierten Menschenrechtsaktivismus Vorschub leisten, argumentierte der Thüringen-Flügel andersherum, wenn auch weniger zugespitzt: Danach sei es unumstritten, dass Hamburg das bessere Pflaster für linksradikalen Antirassismus abgäbe. Und dennoch: Die Chance, durch einen direkten Kooperationspakt mit politisch organisierten Flüchtlingen erste Schritte in Richtung trans-identitärer Organisierung zu gehen (und somit den "Wir-Ihr-Effekten" rassistischer Ein- und Ausschlußmechanismen das Wasser abzugraben) sei einfach zu groß, ja zu verlockend, als dass sie vergeigt werden dürfte.
So weit die überaus verkorkste Ausgangssituation. Entschieden wurde trotzdem, auf einem Treffen Anfang Dezember in Göttingen, und zwar - anders als von den meisten erwartet - zugungsten von Thüringen! Das aber blieb nicht folgenlos. Die mehr als knapp (und sicherlich komisch) zustandegekommene Entscheidung war gerade mal drei Minuten alt, da entpuppte sich so mancheR LinksradikaleR einmal mehr als typisch deutscher Michel, d.h. als "typisch deutscher Verlierer" (wie es einer der Betreffenden unumwunden zugab): Nicht nur wurden die ersten Austritte aus dem Vorbereitungskreis des Grenzcamp-Projektes verkündet, nein, es wurden bereits Gegenaktivitäten in Aussicht gestellt (die mittlerweile mit eigenem Aufruf beworbenen Schill-Y-Out-Days in Hamburg). Und auch wurden die bereits erwähnten Vorwürfe gegen die Thüringen-BefürworterInnen auf durchgedreht anmutende Weise zugespitzt: Die Rede war jetzt von "deutschen Antiras", die "mal wieder ihr Geschäft im Namen der Flüchtlinge gemacht" und die so - Berti Voigts läßt grüßen - einen entscheidenden Beitrag dazu geleistet hätten, das anti-rassistische Grenzcamp-Projekt (als einem der vielverprechendsten Projekte der Radikalen Linken überhaupt) an die Wand zu fahren.
Ich möchte an dieser Stelle kein weiteres Öl in's Feuer schütten. Der bizarr-schrillen Tonlagen gab es wahrlich genug... Angesagt scheint mir vielmehr die um Verständigung bemühte Auseinanderetzung. Denn auch meines Erachtens ist das antirassistische Grenzcamp-Projekt viel zu wertvoll, als dass es im Streit aufgerieben werden dürfte. Als Parteigänger Thüringens möchte ich mich deshalb mit den Pro-Hamburg-Argumenten auseinandersetzen. Hamburg ist auf zweierlei Art in's Spiel gebracht worden.
Einerseits wurde Hamburg in den allerhöchsten Tönen gepriesen: als Metropole (mit linksradikaler Bewegungsgeschichte) sei es geradezu prädestiniert, Austragungsstätte für das 5. antirassistische Grenzcamp zu werden. Andererseits wurde erläutert, ja, mehr noch: davor gewarnt, in welchem Sinne das Projekt ^ÂGrenzcamp' politisch vor die Hunde ginge, würde es im Jahre 2002 nicht in Hamburg, dafür jedoch in Thüringen gastieren. An dieser durchaus klassischen Zweiteilung möchte ich mich im folgenden orientieren.

2. Metropole Hamburg

Insbesondere drei Argumente haben es den Hamburg-Freundinnen angetan:

  1. Große Öffentlichkeit: In dem für die Debatte zentralen, von einem Hamburg-Fan-Club So36 unterzeichneten Bewerbungsschreiben heißt es diesbezüglich: "Viel eher als in der Kleinräumigkeit an der deutsch-polnischen bzw. deutsch-tschechischen Grenze ließe sich hier eine überregionale Öffentlichkeit herstellen, die die rassistische Abschiebe- und Abschottungspolitik auf Bundesebene zum Thema macht (...) Das Gehörtwerden und die Intervention in die laufenden Diskurse stellen wir uns in Hamburg wesentlich erfolgreicher vor als sonstwo." Und auch bestünde in HH die Chance, "dem Grenzcamp in der Außenwirkung wieder ein verstärkt linksradikales/autonomes Profil zu verleihen."
    Begründet wird diese Erwartung mit zweierlei: Auf der einen Seite gäbe es in Hamburg - vergleichbar den Frankfurter Verhältnissen - eine insgesamt größere, gegenüber antirassistischen Anliegen stärker aufgeschlossene Öffentlichkeit, bestehend aus linken JournalistInnen, Resten des bürgerlich-alternativen Lagers, diversen MigrantInnen-Communities, extremistischen KulturproduzentInnen (Hamburger Schule und so...) sowie, last but not least, eine immer noch vielfältige, als gigantischer Resonanzkörper fungierende linksradikale Szene. Auf der anderen Seite seien in Hamburg (Stichwort: Hamburg als Hort linksradikaler Bewegungsgeschichte) "linksradikale Kodierungen einer breiteren Öffentlichkeit bekannt (wenngleich nicht unbedingt sympatisch)", mit der Konsequenz, dass "unsere" Anliegen nicht von vorneherein Gefahr laufen, mißverstanden zu werden, sei es als pures Chaotentum oder als seichte Menschenrechtelei.
  2. Große Themenpalette: Als Großstadt hätte Hamburg eine komplexere Sozialstruktur als z.B. Jena oder Erfurt, es gäbe vielfältigere Milieus, Kulturen und Subkulturen, einen höheren MigrantInnenanteil, mehr staatliche und gesellschaftliche Institutionen, eine komplexere Infrastruktur (vom Hafen bis zur U-Bahn), seit jüngstem einen rassistisch-autoritären Innensenator etc. etc. Hierdurch vergrößere sich nicht nur die Zahl praktischer Interventionspunkte, nein, solche offensichtlich komplexen Verhältnisse verböten es von vorneherein, sich allzu schnell mit einfachen Analyse- und Interventionslösungen zufrieden zu geben, einer Gefahr, der ja (westdeutsche) Linksradikale nicht ganz selten erliegen würden, nicht zuletzt im scheinbar ach so homogenen Osten...
  3. Standortvorteil Hamburg: Hamburg ist großartig, nicht nur wegen seiner traditionsreichen und großen Polit-Szene, nein, auch so - einfach als Stadt: "Die Elbe, der Hafen, die Schanze und der goldene Pudel, Altona und Fischmarkt, Alsterschippern und Alter Elbtunnel, Land Unter und die Hamburger Schule...na ja, Ihr wißt schon" (Fan Club So36)

3. Stimmig, und irgendwie doch nicht...

Sicherlich, viele der genannten Argumente sind stimmig, jedenfalls im großen und ganzen. Und dennoch: Bei näherer Draufsicht fällt so manches Argument fragwürdiger bzw. weniger stichhaltig aus, als es auf den ersten Blick erscheinen mag. Dies gilt es herauszuarbeiten, ist doch andernfalls eine ernsthafte Gewichtung der Pro-Thüringen- mit den Pro-Hamburg-Argumenten kaum möglich:

  1. Zur "Großen Öffentlichkeit":
    1. Dass die Pressereaktionen in Frankfurt derart reichhaltig gewesen sind, hatte nicht nur mit großstadtähnlichen Verhältnissen zu tun, sondern auch mit Anderem: Zum einen ist das Grenzcamp seitens der Öffentlichkeit (nicht zuletzt der ausländischen Öffentlichkeit) direkt mit dem Anti-Globalisierungs-Widerstand in Göteborg und Genua in Verbindung gebracht worden. Das hat viele Extra-Aufmerksamkeits-Credits eingebracht. Zum anderen ist die Idee, das hochsensible (!) Gebilde "Frankfurter Flughafen" zu attackieren, ein echter Clou gewesen. Hierdurch ist es uns möglich gewesen, mit unseren Aktionen auf eine Weise Sand in's Getriebe zu streuen, wie das sonst nur selten der Fall ist. Auch das hat zusätzliche Aufmerksamkeit erregt, Aufmerksamkeit, mit der anderswo nicht so ohne Weiteres zu rechnen ist.
    2. Desweiteren ist anzumerken, dass die These zwar stimmt, wonach in Hamburg von einer potentiell größeren Öffentlichkeit auszugehen ist, dass die Bedeutsamkeit hiervon allerdings nicht überschätzt werden sollte. Denn um tatsächlich politischen Druck aufbauen zu können (und um den geht es ja letztlich), bedarf es mehr als kurzer Momente öffentlicher Präsenz, sei es auf Seite 4 in der Frankfurter Rundschau, auf Seite 1 in der Süddeutschen Zeitung oder 40 Sekunden in der Tagesschau. Nein, wachsender Druck verdankt sich vielmehr direkten Mobilisierungserfolgen, d.h. dem Umstand, dass immer mehr (!) Menschen bereit sind, auf eine bestimmte, z.B. antirassistische Weise Position zu beziehen und so politischen Druck aufzubauen. Wie aber kommt es zu Mobilisierungserfolgen? Zum einen darüber, dass wir mit unseren Anliegen öffentlich präsent sind und auf diese Weise potentiell Interessierte aufhorchen lassen. Das allerdings ist nur die eine Seite der Medaillie. Die andere ist unsere Bereitschaft (ob in Hamburg, Thüringen oder sonstwo), immer wieder offen auf alle die zuzugehen, die uns zwar irgendwie nahestehen und die deshalb immer wieder aufhorchen, die sich aber noch nicht, zumindestens nicht weitergehend, in linksradikale Zusammenhänge verirrt haben. Just diese Bereitschaft ist indes in linksradikalen Zusammenhängen mehr als unterentwickelt. Sie herauszubilden, ist deshalb absolut erforderlich, sind wir doch andernfalls dazu verurteilt, weiterhin um uns selbst, d.h. um unsere eigene, mehr als marginale Randexistenz zu kreiseln. So betrachtet dürfte deutlich werden, weshalb es zu kurz greift, einfach mal die Hamburger Öffentlichkeitspotentiale zu lobhudeln, ohne jedoch genauer auszuloten, ob diese unter den gegebenen Bedingungen überhaupt effektiv nutzbar sind, jedenfalls so effektiv, dass sie als ausschlaggebendes Pro-Hamburg-Argument taugen. Oder zugespitzter noch: Was nutzt uns die schönste Öffentlichkeit (die in Hamburg sicherlich zu haben ist), wenn wir gleichzeitig nichts bzw. nur sehr wenig daraus machen?
    3. Wenn wir von öffentlicher Wirksamkeit sprechen, dann sollte schließlich auch nicht vergessen werden, dass ein (trans- identitäres) 1000-Personen-Camp, davon vielleicht die Hälfte Flüchtlinge und MigrantInnen, einen ganz eigenen Ereigniswert darstellt und auf diese Weise so manchen thüringenspezifischen Öffentlichkeitseffekt herstellen könnte.
  2. Zur "Großen Themenpalette": Auch dieses Argument scheint mir schief zu sitzen:
    1. Gewaltverhältnisse gibt es überall, sie treten stets gemeinsam auf, ob in der Großstadt oder der Provinz. Auf den Punkt gebracht wird dies nicht zuletzt durch die Sprößlinge sog. "National Befreiter Zonen": Mal attackieren sie Schwule, dann verwüsten sie jüdische Friedhöfe, oder sie jagen MigrantInnen, zünden Flüchtlingsunterkünfte an, und auch erschlagen sie von Zeit zu Zeit Obdachlose, machmal auch Behinderte. Sie zeigen hiermit - es mag noch so bizarr sein -, dass Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus, Sexismus, Heterosexismus, Kapitalismus, Normalismus etc. nicht nur überall anzutreffen, sondern auch auf vielfältige Weise miteinander verschränkt sind. Hieraus folgt aber: Dass es in Hamburg mehr Interventionspunkte geben soll als anderswo, davon kann, jedenfalls im Lichte solcher Überlegungen, einfach nicht die Rede sein!
    2. Die Tatsache, dass die mögliche Themenpalette, ob in Hamburg oder Thüringen, prinzipiell groß ist, heißt noch lange nicht, dass es im Rahmen des antirassistischen Grenzcamps sinnvoll wäre, sämtliche dieser Themen aktionsförmig (!) umzusetzen. Vielmehr will überlegt sein, welche Themen bzw. welche Themenverknüpfungen wann, wo und wie aufbereitet werden. Denn nur, wo dies in systematischer und strategischer Absicht erfolgt, wird thematische Vielfalt zur Stärke. Andernfalls droht Verzettelung und somit der Eindruck allzu großer Unübersichtlichkeit oder gar Beliebigkeit (Stichwort: Roter Faden!). Diese Einschätzung ist innerhalb des Grenzcampzusammenhangs lange geteilt worden, mit dem Zusatz allerdings, dass das Grenzcamp mehr zu sein habe als purer Aktionsraum, nämlich auch diskursiver, d.h. öffentlicher Raum, also Raum für Veranstaltungen, workshops und Diskussionsrunden, auf dass wenigstens in diesem Sinne thematische Vielfalt herrschen möge. So betrachtet, dürfte aber deutlich werden, wie schief es ist, mit dem Argument inhaltlicher Vielfalt für Hamburg zu werben. Denn wenn ein Gutteil der inhaltlichen Vielfalt sowieso über Veranstaltungen u.ä. hergestellt wird, dann hat doch dieser Aspekt mit der Ortsfrage nur sehr wenig zu tun! Oder macht es für die jeweiligen Inhalte (welche eh schriftlich aufbereitet, d.h. über verschiedendste Szene-Medien publik gemacht werden sollten) einen Unterschied, ob das Grenzcamp-Veranstaltungszelt in Hamburg oder Thüringen steht?!
    3. Der Umstand, dass (westdeutsche) Linksradikale immer wieder, nicht zuletzt im Osten, zu Simplifizierungen neigen (und so ungewollterweise der völkischen Weltsicht entgegenarbeiten, wonach so manche Ost-Zone von "Fremdem" und "Anderem" befreit sei), ist zweifelsohne blöd. Allein: Kurieren lässt sich derlei Verhalten nicht in Hamburg! Nein, den linksradikalen Hang zu Simplifizierungen, Stereotypisierungen u.ä., dem kann nur - überall dort, wo er auftritt - durch inhaltliche Veranstaltungen u.ä. begegnet werden, und die können stattfinden, wo sie wollen, Hauptsache, sie finden statt!
  3. Zum "Standortvorteil Hamburg": Geschenkt, Hamburg ist großartig. Insofern ist es zweifelsohne ein charmanter Schachzug des Kreuzberger Bewerbungsschreibens gewesen, Hamburg auch in dieser Hinsicht abzufeiern. Und dennoch: Dass der Flair einer Stadt in einer politischen Debatte eine derart zentrale Rolle bekommen hat (zumindest unterschwellig), das ist doch ein wenig obszön (oder auch wohlstandschauvinistisch), jedenfalls gemessen daran, dass wir es leider mit äußert beschissenen Dingen zu tun haben, u.a. mit so etwas Banal-Bösem wie der Residenzpflicht, die es bestimmten Menschen schlicht verbietet, nach Lust und Flair zu leben bzw. Politik zu machen.

4. Zwischenbilanz

Zugestanden, viele meiner Einwände sprechen auf keinen Fall gegen, sie sprechen aber auch nicht für Hamburg, sie zeigen lediglich, dass eine ganze Reihe der zugungsten von Hamburg in's Spiel gebrachten Argumente mitnichten so zugkräftig sind, wie es in vielen Debattenbeiträgen immer wieder als unhintergehbare Selbstverständlichkeit behauptet wurde (Stichwort: Selbstläufer...). Insbesondere die Doppel-Problematik,

  1. auf welche Weise und
  2. mit welchen Zielsetzungen "wir" beabsichtigen,

Öffentlichkeit herzustellen, ist um einiges komplexer, ja unaufgelöster, als in den allermeisten Pro-Hamburg-Statements der Eindruck erweckt wird. Demgegenüber sprechen allenfalls zwei Umstände für Hamburg:

  1. Hamburg ist in der Tat eine attraktive Stadt und auch verfügt Hamburg über eine (immer noch) große Szene. Im Falle eines Hamburger Camps (vielleicht ja 2003...) hätte das indessen beeindruckende TeilnehmerInnenströme zur Folge, einschließend diverser Rückkoppelungseffekte, welche dies (auch über Hamburg hinaus) für die linksradikale Szene mit sich brächte.
  2. Schill: Keine Frage, Schill ist gefährlich, nicht zuletzt als modernisierter Prototyp einer sich immer autoritärer gebärdenden Innen- und Rechtspolitik. Mit der power eines antirassistischen Grenzcamps eine diesbezügliche Kampfansage zu machen, wäre sicherlich sinnvoll!

5. Vom weißen Antirassismus zur trans-identitären, mehr noch: zur hybriden Organisierung

Wie eingangs schon angedeutet, hat sich das Hamburg-Lager nicht damit begnügt, Hamburg als potentielle Grenzcamp-Stätte stark zu machen. Nein, es wurde zusätzlich (so wie in jeder hundsgemeinen Wahlkampagne auch) explizit gegen Thüringen argumentiert, mitunter polemisiert. Und das auf zweierlei Weise: Zum einen wurden viele der Pro-Hamburg-Argumente nicht nur positiv, sondern auch negativ, d.h. als Anti-Thüringen-Argumente in die Waagschale geworfen, eine sattsam bekannte Strategie, die keiner weiteren Erläuterung bedarf. Zum anderen ist Thüringen ob der für dort in's Auge gefaßten Kooperation zwischen dem mehrheitlich deutsch- weißen Grenzcampvölkchen sowie The Voice und anderer Flüchtlingsselbstorganisationen massiv attackiert worden. Denn programmatisch hätte dies die "Reduktion auf bloßen Antirassismus" (Schill-Y-Out-Days-Aufruf) zur Folge, bedeutete also nichts anderes als den Ausverkauf linksradikaler Widerstandsperspektiven: Anstatt Antirassismus als prinzipielle Absage an die gesellschaftlichen Verhältnisse zu begreifen, würde mit der Thüringen-Entscheidung nur noch das aus der Antira-Arbeit hinlänglich bekannte (und nicht selten als karitativer Paternalismus daherkommende) Unterstützungs-Klein-Klein drohen. Als Ort radikaler Gesellschaftskritik hätte das Grenzcamp somit ausgedient. Zu erwarten sei vielmehr ein "flüchtlingspolitisch reduziertes Camp" - zuungunsten eines "Hamburger-Polit-Zeltlagers" (um nur eine von vielen diesbezüglichen Stimmen zu zitieren). Warum das so wäre, das indessen ist nur selten ausgeführt worden, wahrscheinlich, weil es als Subtext sowieso allen klar geworden sein dürfte: Im Kern scheint es den KritikerInnen darum zu gehen, dass The Voice keine genuin linksradikale Kombo sei, genausowenig wie die Mehrheit der deutsch-weißen Antiras (wer immer das innerhalb des Grenzcampzusammenhangs sein soll) mit Antira-Arbeit gesellschaftsverändernde oder gar revolutionäre Perspektiven verbinden würde. Da aber The Voice und andere Flüchtlingsselbstorganisationen (samt ihrer deutschen Antira-FreundInnen) Quasi-AusrichterInnen des Thüringer Camps wären, hätte das automatisch den beklagten Substanzverlust zur Folge. Dieser Perspektive gilt es, in vielerlei Hinsicht zu widersprechen:

  1. Es mag sein (ohne mir wirklich ein Urteil anmaßen zu können), dass The Voice in seiner Gesamtheit kein linksradikaler Zusammenhang ist (so wie Linksradikalität gemeinhin, d.h. seitens deutscher Linker bestimmt wird), jedenfalls könnte mensch das aus der offiziellen Selbstdarstellung von The Voice herauslesen (www.humanrights. de/voice). Allein: Mir scheint dies kein Zufall zu sein. Wem die fundamentalen Menschen- und Sozialrechte entzogen sind, die bzw. der hat notgedrungenerweise ein ganz eigenes Politik- und Radikalitätsverständnis. Konkret: Wenn The Voice z.B. einklagt: "Recht auf Leben - Abschaffung von Folter, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung; Abschaffung von Sklaverei und Zwangsarbeit; Recht auf persönliche Freiheit und Sicherheit", dann spiegelt sich hierin ein Erfahrungshorizont wieder, der deutschen Weißen zumeist erspart bleibt und der ihnen deshalb auch nicht zum politischen Bezugspunkt geraten kann. Dies zu ignorieren (oder als reformistische Menschenrechtspolitik zu denunzieren), ist nicht nur zynisch und borniert, nein, es verkennt auch einen allgemeinen, für revolutionäre Gesellschaftsveränderung fundamentalen Sachverhalt: Radikale Widerständigkeit ist ein Privileg, keine Selbstverständlichkeit. Wer im absoluten Existenzkampf steckt, der bzw. dem bleibt selten mehr als Unterwerfung oder Unsichtbarkeit, oder aber (verzweifeltes) RebellInnentum, welche seinerseits allerdings in den meisten Fällen brutal zerschlagen wird. Demgegenüber bedarf die Entwicklung langfristiger und grundlegender Widerstandsperpektiven ein Mindestmaß sozialer und persönlicher Freiheit, gleichsam als Voraussetzung dafür, individuelle und kollektive Emanzipationsprozesse initiieren bzw. durchlaufen zu können. Ja, und deshalb scheint es mir äußerst unangebracht (weil eben die Wirkungsmechanismen rassistischer Diskriminierung verkennend), Kampagnen wie die Anti-Residenzpflicht-Kampagne als verkürzten Antirassismus abzutun. Vielmehr gilt es, solche Kampagnen zu unterstützen, auf dass immer mehr Flüchtlinge in den Stand gesetzt werden, weitergehende Perspektiven entwickeln zu können - so denn dies nicht sowieso schon geschehen ist. Wohlgemerkt: "So denn"! Denn so wichtig es ist, unterschiedliche Erfahrungshorizonte ernstzunehmen (inkl. unterschiedlicher Schlußfolgerungen, die das nach sich ziehen kann), so falsch wäre es, hieraus den allgemeinen Schluß zu ziehen, Flüchtlingsselbstorganisationen seien prinzipiell weniger radikal, ja reformistisch. Genau dieser Eindruck ist jedoch in der Hamburg-Thüringen-Debatte regelmäßig erweckt worden, und zwar dadurch, dass immer wieder (im Rahmen des allgemeinen Anti-Thüringen-Bashings) die These eingespielt wurde, wonach die Bezugnahme auf die soziale Lage als Ausgangspunkt antirasstischer Praxis (wie gesagt: Ausgangspunkt!) automatisch bedeute, hierbei stehenzubleiben, das Ganze also im (vorgeblichen) Elend reformistischer Menschenrechtelei versacken zu lassen. Das allerdings ist nicht nur dreist, sondern auch selbstgerecht, ist es doch nicht zuletzt die undogmatisch Radikale Linke gewesen (auf welche sich die Pro-HH-Fraktion permanent bezieht), die stets das Konzept der "Politik in der 1. Person" stark gemacht hat, also jene Perspektive, wonach politische Praxis nicht in sog. StellvertreterInnenpolitik erstarren, sondern vielmehr die eigene soziale als Basis, d.h. als Ausgangs(!)punkt begreifen sollte, sei es in Stadtteil-, Häuser- oder JobberInnenkämpfen. So betrachtet, drängt sich allerdings der Eindruck auf, dass in den letzten Monaten immer wieder mit zwei Meßlatten hantiert wurde: Während deutsche Bewegungslinkte sich sehr wohl zutrauen, den Kampf um die eigenen Lebensbedingungen mit einer allgemeinen linksradikalen Perspektive zu verknüpfen, stehen Flüchtlinge unter dem Generalverdacht, genau dies nicht auf die Reihe zu kriegen bzw. gar nicht erst anzustreben, ein Eindruck, gegen den sich bereits in Göttingen ein Vertreter von The Voice vehement verwahrt hat!
  2. Das Gerücht, wonach politische Kooperation mit Flüchtlingen eine lahme, ja geschäftsschädigende Angelegenheit, sei, ist arm, es gibt Auskunft nicht zuletzt über den beschränkten Horizont derer, die Solches behaupten. Denn unabhängig davon, ob The Voice und andere MigrantInnenorganisationen humanistisch, radikaldemokratisch oder ngo-mäßig sind, sich hiervon abschrecken zu lassen, ist alles andere als plausibel. Worauf es ankommt, ist vielmehr, eine eigene Positionsbestimmung in Sachen antirassistischer Kooperation vorzunehmen. Wer dies tut, wird alsbald mit dreierlei (oder mehr...) Einsicht belohnt werden: Erstens: Kooperation muß sich nicht in reformistischer Unterstützungsarbeit oder gar Paternalismus (ob karitativ oder instrumentell) erschöpfen. Nein, es sind auch andere, insbesondere radikale Kooperationen vorstellbar. Zweitens: Unterstützungsarbeit und andere, sei es soziale oder politische Kooperationsformen schließen einander nicht aus. Im Gegenteil: Langfristig (Stichwort: Transidentitäre, mehr noch: hybride Bündnisse, s.u.) geht das eh ineinander über! Drittens: All dies ist nicht nur Zukunfts-, sondern auch Vergangenheitsmusik. Dies meint, dass die (in der Tat) häufige Reduktion von Anti-Rassismus auf moralisch-humanitäre Unterstützungsarbeit ein eher jüngeres Phänomen ist. Noch in den 80-er, auch in den frühen 90-er Jahren ist Anti-Rassismus häufig in eine sozialrevolutionäre, d.h. anti-kapitalistische Perspektive eingebunden gewesen. (vgl. hierzu vor allem die Flüchtlingskampagne der RZ). Dies ist zwar seinerseits mit zahlreichen Fragwürdigkeiten einhergegangen, immerhin wurde Flüchtlingen und MigrantInnen die Last des globalen "Revolutionären Subjekts" aufgebürdet. Und dennoch: Es zeigt, dass wir in Thüringen nicht vor der Neuerfindung des Rades stehen. In diesem Sinne lohnt es auch, bereits gemachte Erfahrungen und Erkenntnisse ernst zu nehmen. Verwiesen sei diesbezüglich insbesondere auf ein vom Anti- Rassismusbüro/Bremen im September 2000 vorgelegtes Strategiepapier, in welchem u.a. das Scheitern diverser Kooperationsprojekte zwischen deutschen AntirassistInnen und Flüchtlings- bzw. MigrantInnenselbstorganisationen analysiert wird. Nachzulesen ist dies (inklusive einer nicht minder lesenswerten Replik) unter: www.is-Bremen.de/arab. Gewendet auf die Jetzt-Zeit, heißt dies: Es ist billig, (so wie das Teile der Pro-Hamburg-Fraktion tun), unter Verweis auf den derzeitigen Stand des Anti-Rassismus laut Bäh! zu schreien und sodann die Biege nach Hamburg zu machen. Verdammt noch mal, das ist doch keine Lösung! Wer ihre bzw. seine Kritik an der gegenwärtigen, mitunter tatsächlich besorgniserregenden Verfaßtheit des Antirassismus ernst meint, die bzw. der geht vielmehr nach Thüringen und guckt, dass schnellstmöglichst Veränderungen in die Wege geleitet werden. Dass dies nicht ohne Kritik, ja Auseinandersetzung abgehen wird, das wird von überhaupt niemanden in Frage gestellt, zuallerletzt von den refugees und migrants selbst!
  3. Ich komme zum (vorerst) letzten Argument, welches weniger Erwiderung als vielmehr Outing einer Leerstelle (im Pro-HH-Diskurs) ist, einer Leerstelle allerdings, die ominös und deshalb auszudeuten ist: sei es als machtpolitischer Winkelzug, unfreiwillige Selbstentlarvung oder aber skurille Hör- und Sehblockade. In der für die Pro-Hamburg-Fraktion ausschlaggebenden Behauptung, wonach in Thüringen v.a. Flüchtlingsunterstützungsarbeit geplant, dies jedoch verkürzter und deshalb abzulehnender Anti-Rassismus sei, wird nämlich geflissentlich unterschlagen, dass nicht nur auf den beiden Nach- und Vorbereitungstreffen in Frankfurt und Göttingen, sondern auch in mehreren schriftlichen Beiträgen Weiteres und Anderes als das bislang Ausgeführte zugunsten von Thüringen in die Waagschale geworfen wurde, und zwar von Leuten u.a. aus Frankfurt, Berlin und Bremen: Demnach böte ein zusammen mit Flüchtlings- und MigrantInnenorganisationen auf die Beine gestelltes Grenzcamp die Chance, endlich den Umstand anzugehen, dass das antirassistische Grenzcampvölkchen (bislang) ein mehrheitlich deutsch-weißes ist. Denn dieser (auch aus anderen Zusammenhängen bekannte) Umstand ist alles andere als harmlos. Nein, ganz im Gegenteil: Er ist Effekt rassistischer Ein-und Ausschlußmechanismen, also weder Zufall noch Neutrum, sondern Teil des Problems, welches wir vorgeben, mittels antirassistischer Grenzcamps und anderer Aktivitäten bekämpfen zu wollen. Konkret meint dies: MitgrantInnen, Flüchtlinge und Papierlose sind zahlreichen institutionellen wie strukturellen Schikanen, Diskriminierungen und Widrigkeiten ausgesetzt. Dies reicht von gezielten Strategien sozialer Isolation insbesondere im Flüchtlingsbereich (Stichwörter wären: Heimunterbringung, Arbeitsverbot, Residenzpflicht, Chipkartensystem...), geht weiter mit (nicht zuletzt) struktureller Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt, in der Welt der Lohnarbeit, im Bildungssystem, im Bereich politischer Partizipation etc. und endet bei alltäglicher, sei es verbaler, symbolischer oder physischer Gewalt. Sämtliche dieser Ausschlüsse haben indessen - und das ist entscheidend - eine unabdingbare Voraussetzung: Sie erfordern die Existenz einer kollektiven, nicht nur nationalen, sondern auch rassistisch aufgeladenen WIR-Identität, der ihrerseits ein wie auch immer geartetes IHR gegenüberzustehen hat, bestimmt als das mehr oder minder Fremde bzw. Andere. Denn nur, wo ein WIR von einem IHR unterschieden wird, ist es überhaupt plausibel oder legitim (jedenfalls in rassistisch-national verfaßten Gesellschaften), dass bestimmte Menschen den eben aufgelisteten Schikanen, Diskriminierungen und Widrigkeiten unterworfen werden können.

Die Existenz solcher WIR-IHR-Identitäten setzt allerdings doppelte, spiegelbildlich aufeinander bezogene Konstruktionsprozesse voraus, und das, weil derartige WIR-IHR-Identitäten nichts sind, was einfach so auffindbar wäre. Stattdessen ist festzuhalten, dass im Zuge historischer Prozesse (d.h. durch Kolonialismus und Sklaverei, durch Herausbildung kapitalistisch-patriarchaler Nationalstaaten, durch Apartheit und rassistische Diskriminierung etc.) Hautfarbe und andere, ebenfalls physische (und neuerdings auch kulturelle) Merkmale als vorgeblich bedeutsame Unterscheidungskriterien nicht nur konstruiert, sondern auch markiert (= bestimmt) wurden, und dass es auf dieser Grundlage (unter Rückgriff auf weitere, tatsächliche wie zugeschriebene Merkmale und Eigenschaften) zur Bildung verschiedener weißer, schwarzer und anderer Identitäten gekommen ist. Was dies genau heißt, dem kann an dieser Stelle nicht nachgegangen werden, würde dies doch die Beantwortung einer Vielzahl unterschiedlicher Fragen erforderlich machen, Fragen wie z.B. folgender: Was heißt blackness und whiteness, was heißt, dass Schwarzsein bzw. Weißsein historisch bzw. kulturell produzierte Identitäten sind, wie entstehen diese Identitäten, warum ist whiteness auf blackness angewiesen, was sind phantatisch-projektive Zuschreibungen (zwischen Lust, Begehren und Angst), wie und weshalb werden Zuschreibungen verinnerlicht und folglich Realität, wie verschränken sich blackness, whiteness und andere Herrschaftsverhältnisse (z.B. gender), inwieweit sind blackness und whiteness verkürzte und deshalb auszudifferenzierende Polarisierungen (hinsichtlich asiatischer, arabischer, osteuropäischer...) Identitäten etc etc.? Wie gesagt, jetzt möchte ich diesen Strang nicht weiter verfolgen, verwiesen sei aber auf den in der interim Nr. 541 bzw. im kassiber Nr. 47 abgedruckten Text "Koloniale Bilderwelt und Subjekt. Oder: whiteness, blackness und gender: Zur Verschränkung von Rassismus und Sexismus". Dieser Text versucht nämlich, auf einige der eben aufgeworfenen Fragen Antworten zu formulieren, und auch handelt es sich um einen der Texte, welche im Laufe der Thüringen-Hamburg-Debatte zur Diskussion gestellt, welche allerdings von der Pro-Hamburg-Fraktion samt und sonders ignoriert wurden....
Zurück: Führt sich mensch das eben Gesagte vor Augen, wird offensichtlich, weshalb es alles andere als ein Zufall ist - dafür jedoch Effekt rassistischer Ein- und Ausschlußmechanismen -, dass es innerhalb des Grenzcamp-Zusammenhangs bislang zu keiner weiterreichenden Kooperation zwischen refugees und non-refugees bzw. MigrantInnen und Nicht-MigrantInnen gekommen ist. Denn nicht nur existieren zwischen refugees, deutschen Weißen und MigrantInnen deshalb Unterschiede, weil sie häufig unterschiedlichen gesellschaftlichen bzw. kulturellen Kontexten entstammen und sich hierdurch die Summe möglicher Überschneidungspunkte reduziert (womit allerdings nicht das Vorurteil fester, streng voneinander abgezirkelter Kulturkreise bedient werden soll, s.u.). Nein, zwischen refugees, deutschen Weißen und MigrantInnen existieren nicht zuletzt deshalb Unterschiede, weil sie qua rassistischer Verhältnisse unterschiedlich vergesellschaftet, d.h. an unterschiedliche Orte im gesellschaftlichen Raum "platziert" werden. Oder zugespitzer noch: Während deutsche Weiße zum gesellschaftlichen WIR gehören (samt aller Einschlüsse, die das mit sich bringt) gehören refugees und MigrantInnen zum gesellschaftlichen IHR (samt aller Ausschlüsse, die das mit sich bringt). Und das gilt für alle, also auch für weiße Linksradikale, sie mögen sich noch so wehren, aber dem Privileg, nicht (!) rassistisch diskriminiert, ausgegrenzt und schikaniert zu werden, dem kann ein deutscher Weißer in Deutschland einfach nicht entkommen.
Hieraus folgt indes, dass trans-identitäre (ja, mehr noch: hybride) Organisierung die einzig angemessene Strategie ist, to fight racism seriously! Um zu verstehen, was dies konkret meint, sollte mensch sich zuallerest zwei Aspekte in Sachen Identität vor Augen führen: Zum einen ist es - ob's gefällt oder nicht - unumgänglich, die Unterschiede zwischen den jeweiligen Identitäten anzuerkennen, d.h. wahr- und ernstzunehmen! Schließlich sind unsere Identitäten Ausdruck unterschiedlicher Erfahrungen, Erfahrungen, die je nach Klasse, Geschlecht Ethnizität etc. unterschiedlich ausfallen und folglich mit je spezifischen "Vorgaben" zur Subjekt- bzw. Identitäsbildung einhergehen. Zum anderen gilt aber auch, dass Identität nichts ist, was einfach reflexartig, quasi von selbst entstehen würde, je danach, an welchen Platz ein Mensch im gesellschaftlichen Raum geraten ist. Nein, Identitäten sind immer das Produkt eines Wechselspieles: Menschen sind zwar bestimmten Bedingungen ausgesetzt (die sie sich nicht aussuchen können), es gibt aber auch Spielräume, Spielräume, in welchen die eigenen Umstände reflektiert werden und Veränderungs- oder gar Revolutionswünsche entstehen können. (Gäbe es diese Spielräume nicht, wäre es überhaupt nicht erklärbar, warum es "uns", warum es Widerstand überhaupt gibt). In diesem Sinne ist v.a. die Identitätspolitik marginalisierter bzw. diskriminierter Gruppen ernst zu nehmen (Lesben/Schwule, MigrantInnen und Flüchtlinge, Frauen, Behinderte, etc.), denn um Widerstand leisten zu können, muß zuallererst ein Widerstandskollektiv geformt werden, müssen sich die Betreffenden über ihre jeweiligen Diskriminierungserfahrungen genauso austauschen wie darüber, wohin die Reise gehen soll, eine Strategie, die nicht selten mit einer (taktischen) Bejahung der eigenen Marginalisiertheit verknüpft ist (verwiesen sei beispielhaft auf das Kanaak Attack-Konzept). Ja, und mit Abstrichen gilt dies auch für linken Widerstand im allgemeinen, auch dieser bedarf eines kollektiven Wir's, andernfalls wären die linken WiderständlerInnen nicht mehr als ein wilder, überhaupt nicht handlungsfähiger Hühnerhaufen.
Und dennoch: So wenig Identität in Bausch und Bogen verteufelt werden darf (ich bitte, dies zu berücksichtigen!), so sehr gilt umgekehrt, dass Identitäten in erster Linie Herrschaftsprodukte sind. In ihnen spiegeln sich, wie eben schon ausgeführt, die Summe der jeweiligen Erfahrungen wider, d.h. die Zumutungen (zum Guten wie zum Schlechten), die Diskriminierungen, die Schikanen, die Zwänge, die Normierungen, die Einordnungen, die Klassifizierungen, die Polarisierungen, kurz, alles das, was Menschen erleben müssen bzw. erleben dürfen. Ja, und weil das so ist, weil unsere Identitäten in erster Linie verinnerlichte Herrschaftsverhältnisse sind, weil wir zum Bestandteil der von uns bekämpften Verhältnisse gemacht werden, ist es unumgänglich, unsere Identitäten kritisch zu hinterfragen, d.h. sie auseinanderzupflücken und sie (langfristig) zu etwas ganz Anderem zusammenzusetzen: Es gilt (um's auf dem Feld des Rassismus zu formulieren) Identitäten zu erproben, die jenseits rassistischer IHR-WIR-Polarisierungen angesiedelt sind, die nicht auf Abgrenzung, Aus- und Einschluß, projektiven Zuschreibungen etc. beruhen, sondern die im Fluß sind, sich immer wieder wandeln, weiterentwickeln, die das Andere nicht nur im Außen vermuten (bei den Fremden...), sondern auch in sich selbst, die aus sich heraus zu immer neuen Gewässern starten, neuen Gewässern nicht zuletzt in sich selbst (Stichwort: Freies Fluten - hey, merkt Ihr was!?). Angesagt ist mit anderen Worten das, was im anglo-amerikanischen Sprachraum mit dem leider etwas sperrigen Begriff der Hybridität bezeichnet wird: Wo sich hybride Identitäten bzw. hybride Kulturen herausschälen, da gibt es kein Außen, welches von einem wie auch immer bestimmten Innen streng abgeschottet wäre, dort ist es nicht mehr möglich, Dazugehörige und solche, die nicht dazugehören, auseinanderzusortieren und auf dieser Grundlage Diskriminierungs-, Ausbeutungs- und Gewaltverhältnisse zu errichten.
Doch stopp: Das, was ich soeben formuliert habe, ist Zukunftsmusik, ist nicht mehr als utopischer Fluchtpunkt. Denn wir stehen derzeit irgendwo ganz anders. Wir sind - Achtung Zuspitzung! - Gefangene unserer Identitäten, was auch nicht weiter verwunderlich ist, schließlich ist es für keineN möglich (ob Flüchtling, weisser DeutscheR oder MigrantIn), einfach mal die gesellschaftlichen Verhältnisse (aus welchen unsere jeweiligen Identitäten hervorgehen) auszuhebeln. Oder anders: Solange gesellschaftliche Herrschaftsverhältnisse existieren, solange sind auch unsere Identitäten unmittelbare, schattengleiche ZeugInnen dieser Verhältnisse. Schade, aber wahr!
In diesem Sinne kann's in Thüringen um nicht mehr als erste Schritte gehen, erste Schritte allerdings - und an dieser Stelle kommt das schöne Wörtchen des Trans-Identitären in's Spiel - welche die engen Grenzen des eigenen Identitäts-Raumes hinter sich lassen, das jedoch immer im Wissen darum, dass Identitäten äußerst unterschiedlich ausfallen können, also gar nicht so ohne Weiteres zusammenpassen und deshalb stets geguckt werden muß, wo's paßt und wo nicht und wo es ggf. auch ansteht, zu streiten, zu streiten nicht zuletzt darüber, wie (langfristig) ein solches anti-rassistisches Widerstands-WIR herausgebildet werden kann, welches seinerseits bereits trans-identitär, ja hybrid gestaltet ist. Oder anders: In Thüringen soll's vor allem darum gehen, mittels trans-identitärer Organiserung, dem Kern des Rassismus das Wasser abzugraben: Rassismus setzt Trennungen voraus (WIR-IHR...) und errichtet sie immer wieder neu. Dem kann nur begegnet werden, indem die Trennungsschrauben gelockert und teilweise auch aufgedreht werden, indem also Flüchtinge, deutsche Weiße und MigrantInnen kooperieren, auf dass nicht nur die Identitätsmauern eingerissen (oder zumindetens angekratzt), sondern auch die direkt hiermit zusammenhängenden Herrschaftsverhältnisse bekämpft werden, sei es das Abschieberegime, das Arbeitsverbot oder die handfeste Gewalt auf der Straße.
Indes: Hiervon wollen verschiedendste Leute aus der Pro-HH-Fraktion nichts wissen, und zwar so wenig, dass es einige von ihnen vorgezogen haben, den Mantel des Schweigens darüber auszubreiten, wie und mit welchen Argumenten für Thüringen überhaupt argumentiert wurde. Dafür scheint es im Gegenzug (wie gesagt: es scheint!), als ob es einige der Hamburg-Zampanos vorzögen, in ihrem eigenen Saft weiterzuschmoren, d.h. ihren eigenen Schrebergarten (in den Farben: deutsch-weiß-autonom) weiter zu bestellen, und das im Namen eines, wie es immer wieder heißt, echten (eines guten, eines reinen, eines ordentlichen....) Bewegungscamps. In diesem Zusammenhang eine Frage: Kann mir mal eineR, irgendeineR erklären, warum es nicht möglich sein soll, in Thüringen ein linksradikales und d.h. auch: ein transidentitäres Bewegungscanp auf die Beine zu stellen. Mensch, Hirschkäfergezwitscher noch mal: Das wäre doch cool, tausend mal cooler (und obendrein eine riesige Chance), als einmal mehr eine antirassistische Grenzcamp-Vollversammlung mit mehrheitlich deutsch-weißem Personal abzuhalten!!!

6. Fazit

In der Zwischenbilanz hieß es, dass für Hamburg insbesondere Schill sowie infrastrukturelle Vorteile sprechen würden. Dies ist einiges, aber in meinen Augen nicht genug, jedenfalls nicht im direkten Vergleich, also gemessen daran, dass in Thüringen ganz Neues auf uns wartet, Neues, was schwierig, herausfordernd und obendrein privilegien-infragestellend ist, was umgekehrt aber auch eine Chance darstellt, die Chance nämlich, auf eine Viezahl der Notwendigkeiten reagieren zu können, um die wir langfristig sowieso nicht rumkommen (so wie "wir" ja auch nicht um's patriarchale Geschlechterverhältnis rumkommen...). In diesem Zusammenhang sei schließlich noch angemerkt, dass mensch die Chance dort am Schopfe packen sollte, wo sie sich bietet. Dies ist insbesondere an die Adresse derer gerichtet, die immer wieder darauf hingewiesen haben, dass mensch ja auch in Hamburg mit Flüchtlingen und MigrantInnen kooperieren könnte. Das ist zweifelsohne richtig. Allein: In Hamburg gibt es derzeit keinen Flüchtlinge und MigrantInnen, die in vergleichbarer Weise wie The Voice oder die Flüchtlingsinitiative Brandenburg mit dem Grenzcamp verschwistert wären. In diesem Sinne sollte mensch - so denn ihm das Trans-Identitäre tatsächlich am Herzen liegt - lieber dort zupacken, wo sich die Chance auftut, anstatt in Hamburg auf die Suche nach kooperationsbereiten Flüchtlingen und MigrantInnen zu gehen. Ein Vorhaben, welches sowieso zum Scheitern verurteilt wäre, wie jedeR einräumen wird, die bzw. der überhaupt schon mal die Mühe auf sich genommen hat, so etwas wie trans-identitäre Bündnisse zu schmieden. Kurzum: In meinen Augen gibt es viele gute Gründe (von denen im vorliegenden Text noch nicht einmal alle genannt wurden - wie z.B. "Rechte Hegemonie angreifen!"), dass diese Jahr die Musik in Thüringen spielt.
Indes: Es ist zu spät. Beträchtliche Teile der bisherigen Grenzcampvorbereitung (darunter viele der Altvorderen) haben sich verabschiedetet und bereiten mittlerweile die Schill-Y-Out-Days in Hamburg vor. Dies ist - allen Differenzen zum Trotz - für das diesjährige Grenzcamp ein gewaltiges Manko, einmal ganz davon abgesehen, dass alles dies keine Meisterleistung auf dem Feld politischer Kultur gewesen ist. Und dennoch - da beißt die Maus keinen Faden ab -,es ist so, weshalb uns gar nichts Anderes übrig bleibt, als die politische (!) Auseinandersetzung zu suchen, droht doch anderernfalls einmal mehr ein spießiges (weil voneinander abgeschottetes) Nebeneinander autonomer KleingärtnerInen. In diesem Sinne rufe ich Euch an, Ihr RitterInnen des Streits, welche Ihr ja laut Selbstauskunft seid: Brecht Eurer Land-in-Sicht-Schweigen, hört auf, Gerüchte zu streuen, nenntt Roß und ReiterIn, sagt, weshalb ein Grenzcamp in Thüringen in Euren Augen eine politische Sackgasse darstellt. Inhaltliche Textmasse, auf die Ihr Euch beziehen könnt, gibt es ja mittlerweile hinreichend viel!

Gregor Samsa

Quelle: http://www.nadir.org/nadir/kampagnen/camp02/themen_extra3.htm


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